Nordfranzösisches Steinkohlerevier in Oberschlesien
Edward Hopper, Wim Wenders oder Eric Barbier. Ein Motiv der geografischen Verwirrung.
Autor: Martin Janczek
Edward Hopper, Wim Wenders oder Eric Barbier. Ein Motiv der geografischen Verwirrung.
Autor: Martin Janczek
Es ist April und zu dritt cruisen wir an diesem sonnigen Morgen durch Oberschlesien. Ich sitze hinten im Wagen und neben mir liegt, wie sooft unterwegs, der Fotoapparat. Wir fahren in den Stadtteil Lipiny in Świętochłowice hinein und genießen die an uns von links und rechts langsam vorbeiziehende Stadtlandschaft mit den hier typischen Backsteinfassaden der in die Jahre gekommener Häuser. Zu meiner rechten Seite ein Mädchen im Fenster, das wohl die ersten warmen Tage des Frühlings auf der Fensterbank genießt. Das Fenstersitzen hat hier, wie auch im Ruhgebiet, Tradition. Es ist aber mittlerweile vor dem Aussterben bedroht, seitdem Menschen kleine Monitore mit sich tragen und die Welt dadurch betrachten.
Plötzlich fällt mir ein ungewöhnliches Stadtpanorama ins Auge. Ich bitte meine Freunde kurz anzuhalten und steige aus dem Wagen. „Es ist wie eine Filmkulisse“, sage ich zu mir selbst. Bin ich noch im altvertrauten Oberschlesien oder bin ich in Frankreich oder in den USA? Ein Motiv der geografischen Verwirrung steht mir gegenüber. Wo befinden wir uns? Vielleicht in einem Gemälde der 1920er Jahre von Edward Hopper in New York? Oder befinde ich mich in einer stimmungsvollen Wim Wenders Fotografie?
Die Zeit steht still. Es ist der morgendliche Lichteinfall, der diese gewöhnliche oberschlesische Straße zur filmischen Kulisse des Amerikanischen Realismus stilisiert. Zwischen Licht und Schatten zeichnet sich hier vor meinen Augen der Schauplatz einer Westernstadt ab, indem das Licht die Trivialität des Ortes übermalt und eine Szene voller Isolation kreiert. Kein Verkehr und nur zwei unwirkliche Gestalten in der Ferne, zwei Menschen, die den Ort für sich zu beanspruchen scheinen und die auf mich wie Statisten wirken. Eine urbane Seelenlandschaft der Einsamkeit mit nahezu meisterhafter Beleuchtung durch den morgendlichen kontrastreichen Sonneneinfall. Das ist ein Anblick, den ich schon früher geträumt haben muss, also dauert es nicht mehr lange und ich stelle die Fotokamera ein. Meine bevorzugte Formatwahl ist die Horizontale, denn das Querformat vergibt der Stadtlandschaft die wohlverdiente Hauptrolle. Ich drücke mehrmals den Auslöser und der Rest geschieht zu Hause. Ich bearbeite das Bild und suche dann nach einer Erklärung für den Schriftzug, den ich mir nicht erklären kann. “Le Nouveau Combattant / Le mieux informé“, das so viel bedeutet wie: „Der neue Kämpfer / besser informiert“. Ich werde fündig. Die Fassadenmalerei (Mural) wurde einst eigens für einen französischen Film des Regisseurs Éric Barbier auf die Ziegelwand aufgebracht. Der Titel des Filmes lautet „Le Brasier“ und handelt von den sozialen Kämpfen eines Bergbaugebietes der 1930er Jahre in Frankreich. Die Stadtlandschaft erweist sich tatsächlich als eine wahre Filmkulisse
Ich staune, denn auch meine Vorfahren waren in den 1920er und 1930er Jahren auf Arbeitsuche in diese Richtung gereist. Meine in Dortmund geborene Urgroßmutter Wanda und ihr Ehemann Paul zogen in die Industriegebiete Frankreichs und ließen sich im Département Nord in Escaudain nieder. Sie gebar dort einen Sohn, den sie auch Paul nannte. Richtig angekommen sind sie aber nie, denn später verließen sie Frankreich aus mir nicht bekannten Gründen und zogen weiter nach Oberschlesien, wo sie drei weitere Kinder gebar. Kurioserweise kam es so, dass die Brüder Paul und der jüngste Helmut zeitlebens sich nicht in der gleichen Sprache verständigen konnten. Paul lebte in Lünen im Ruhrgebiet und sprach Deutsch und Helmut lebte und lebt immer noch in Ruda Sląska und spricht Polnisch. Die anderen Geschwister sind zweisprachig aufgewachsen. Letztendlich verdanke ich der Migration meiner Urgroßeltern, dass ich in Oberschlesien geboren worden bin. Hier liegen meine Wurzeln und ich liebe diese Region, die Luft und den schlesischen Dialekt, den ich zum Glück nie verlernt habe. Er erhält den Rest einer regionalen Zugehörigkeit in mir aufrecht.
Im hohen Alter, Anfang der 1980er, kehrte meine Urgroßmutter wieder zurück ins Ruhrgebiet und 1987 folgte ihr der Rest der Familie mit mir auf der Rückbank unseren Fiats 125p, Kennzeichen KAI 8051.
Aber zurück zu dem Film: „Le Brasier“ ist ein Sozialdrama zu Beginn der 1930er Jahre im nordfranzösischen Steinkohlerevier. Es kommt zu Konflikten zwischen den emigrierten polnischen Bergarbeitern, die mit ihren Familien um soziale Sicherheit kämpfen, und den französischen Kumpeln, die eine Gefährdung des schwer erarbeiteten Wohlstandes durch die eingewanderten polnischen Familien fürchten. Die Geschichte erinnert mich an die heutige Zeit und ihre politischen Stammtisch-Debatten rund um die Problematik des Ankommens.
Ob im Film oder in der Realität ist es immer wieder die Geschichte des Fremdenhasses und der Ängste der bereits Angekommenen gegenüber den Reisenden. Es ist das Schicksal des kleinen Jesus von Nazareth, seiner Eltern und des Esels.
Obwohl die Thematik des Filmes als solche von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist und sie nicht an Aktualität verliert, bewährt sich der Film nicht in den Augen der Kritiker und wird zum wirtschaftlichen Misserfolg. Was bleibt, ist eine Wandbemalung und ein Foto, das zwischen den Zeilen zu mir spricht.
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